In Zeiten globaler Krisen, politischer Unsicherheit und steigender Lebenshaltungskosten fällt es vielen Menschen schwer, optimistisch zu bleiben. Der Pessimismus scheint oft die einzig vernünftige Reaktion auf die Herausforderungen unserer Zeit zu sein. Die Nachrichten überschlagen sich mit besorgniserregenden Meldungen, soziale Medien verstärken unsere Ängste, und selbst private Gespräche drehen sich häufig um Krisen und Probleme.
Doch das Kundalini Yoga bietet uns einen wertvollen Mittelweg: den neutralen Geist.
Im Kundalini Yoga kennen wir drei Geistkörper, die unser Denken und Handeln bestimmen. Der negative oder beschützende Geist – oft Ursprung unseres Pessimismus – will uns vor Gefahren bewahren. Er ist wie ein übervorsichtiger Freund, der bei jedem Abenteuer zuerst die Risiken sieht. In seiner Grundfunktion ist er wichtig und schützend, doch wenn er überhand nimmt, kann er uns lähmen. Sein Gegenspieler, der positive Geist, drängt uns zu Neuem, macht uns mutig und kreativ. Er ist die Quelle unserer Inspiration und Lebensfreude, kann uns aber auch zu Leichtsinnigkeit verführen. Doch erst der neutrale Geist bringt beide Aspekte in eine gesunde Balance.
Eine meiner Klientinnen kämpfte lange mit übermäßigem Pessimismus. Als Mutter pubertierender Kinder sah sie überall nur Gefahren und verlor zunehmend die Freude am Leben. Ihre ständige Sorge um die Sicherheit ihrer Familie lähmte sie regelrecht. Nachts lag sie wach und malte sich aus, was ihren Kindern alles zustoßen könnte. Selbst alltägliche Aktivitäten wie Treffen mit Freunden oder Schulausflüge wurden in ihrer Vorstellung zu bedrohlichen Szenarien. Diese übermäßige Beschützerhaltung führte dazu, dass sie sich und ihre Kinder immer mehr vom Leben zurückzog. Ein typisches Beispiel dafür, wie ein überaktiver beschützender Geist uns vom Leben selbst abhalten kann. Durch regelmäßige Yogapraxis lernte sie, ihren neutralen Geist zu stärken und wieder mehr Vertrauen ins Leben zu entwickeln.
Der neutrale Geist funktioniert wie ein weiser Supervisor. Er überblickt die Situation von einer höheren Warte aus und trifft Entscheidungen nicht aus Angst oder überschwänglichem Optimismus, sondern aus einem Zustand der inneren Klarheit. Er erkennt die realen Herausforderungen unserer Zeit an – sei es die angespannte weltpolitische Lage oder persönliche Krisen – ohne sich von ihnen überwältigen zu lassen. Dieser ausgeglichene Zustand ermöglicht es uns, auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben und kreative Lösungen zu finden.
Der Schlüssel zur Stärkung des neutralen Geistes liegt im bewussten Atmen (Pranayama).
Die Wissenschaft bestätigt: Eine verlangsamte Atmung von weniger als 15 Atemzügen pro Minute aktiviert unser parasympathisches Nervensystem und beruhigt Körper und Geist. Der neutrale Geist entfaltet sich besonders gut bei 6-8 Atemzügen pro Minute.
Ich lade dich ein, dies gleich selbst zu erfahren: Setz dich bequem hin und nimm dir einen Moment Zeit. Atme zunächst vollständig aus, bis deine Lungen leer sind. Erst dann folgt eine langsame, tiefe Einatmung. Zähle dabei innerlich mit: vier Sekunden ausatmen, kurze Pause, vier Sekunden einatmen. Beobachte, wie sich mit jedem verlangsamten Atemzug dein Geist etwas mehr klärt. Vielleicht spürst du bereits nach wenigen Atemzügen, wie sich deine Perspektive weitet und pessimistische Gedanken in den Hintergrund treten. Diese bewusst verlangsamte Atmung durchbricht den Kreislauf sorgender Gedanken und schafft Raum für eine ausgewogenere Sicht.
Experimentiere in den nächsten Tagen mit dieser Atemtechnik. Nimm dir mehrmals täglich kleine Auszeiten – sei es im Büro, in der U-Bahn oder vor dem Einschlafen. Bereits drei Minuten bewusstes Atmen können den neutralen Geist stärken. Mit der Zeit wirst du bemerken, wie sich dein natürlicher Atemrhythmus verlangsamt und damit auch deine Tendenz zum Pessimismus nachlässt.
Regelmäßiges Üben dieser Atemtechnik verändert nicht nur deine momentane Stimmung, sondern hat auch langfristige Auswirkungen auf dein Nervensystem und deine Resilienz. Studien zeigen, dass Menschen, die regelmäßig bewusst atmen, besser mit Stress umgehen können und weniger zu pessimistischen Gedankenspiralen neigen. Der neutrale Geist wird durch diese Praxis gestärkt und kann seine ausgleichende Funktion besser erfüllen.
In der Praxis bedeutet das: Ja, wir nehmen die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit wahr. Aber statt uns in pessimistischen Zukunftsszenarien zu verlieren, nutzen wir den neutralen Geist als Kompass. Er hilft dir, konstruktiv zu handeln, ohne dabei die Lebensfreude zu verlieren. Denn auch in schwierigen Zeiten gibt es immer Möglichkeiten zur positiven Veränderung – wenn du bereit bist, sie zu sehen. Der neutrale Geist ermöglicht dir, die Balance zwischen realistischer Vorsicht und mutiger Lebensgestaltung zu finden.
Diese Balance ist besonders wichtig in einer Zeit, in der viele Menschen zwischen Zukunftsängsten und dem Wunsch nach einem erfüllten Leben hin- und hergerissen sind.
Der neutrale Geist bietet einen Weg, beides zu vereinen: Er lässt dich wachsam sein, ohne in Pessimismus zu verfallen, und lebendig, ohne leichtsinnig zu werden. So kannst du den Herausforderungen unserer Zeit mit Klarheit, Weisheit und innerer Stärke begegnen.